Straßenorgeln

Historie der Niederländischen Straßenorgeln

Die Straßenorgel „Pluk de Dag“ (übersetzt „Pflücke den Tag“) ist eine typische Vertreterin der niederländischen Straßenorgeln. Dort heißen sie „Draaiorgels“, „Straatorgels“ oder „Pierements“ und erfreuen die Menschen seit über 100 Jahren auf den Wochenmärkten sowie vielen öffentlichen und privaten Veranstaltungen durch fröhliche musikalische Untermalung – und dies bis in die heutige Zeit.

Solche Straßenorgeln bestehen aus einem Orgelwerk, welches um Rhythmusinstrumente (Trommel, Becken), manchmal um ein Glockenspiel, und selten durch ein Akkordeon, erweitert ist. Die Bezeichnung „Orchestrion“ wäre eigentlich zutreffender, wenn die Fachwelt darunter nicht die ortsfesten Salon-Musikautomaten verstünde. Straßenorgeln sind mobile selbstspielende Instrumente, bei denen die Musik meist aus Faltkarton-Notenbüchern oder Notenrollen, vor 1900 auch von Stiftwalzen – abgetastet wird. Bälge und Windladen sowie eine pneumatische Steuerung versorgen die einzelnen Register, Pfeifen und Instrumentenbälge mit dem notwendigen Winddruck.

Die „Draaiorgels“ wurden früher auf offenen, dreirädrigen Holzkarren durch die engen Gassen niederländischer Städte bewegt und auf den Straßen und Marktplätzen gespielt. Daher waren sie sehr kompakt und robust gebaut sowie mit einem Gehäuse versehen, welches etwas Schutz vor schlechtem Wetter bot. Dennoch war es ein harter Straßeneinsatz für Instrument und „Draaiorgelman“. An die Stelle der Holzwagen sind inzwischen meist offene Spezialanhänger getreten. Der Antrieb erfolgte durch mühsames Drehen des großen Handrades, heute meist jedoch durch elektrische Hilfsantriebe, die auf das Handrad wirken.

Niederländische Straßenorgel
von Anton Pluer

Durch farbenfrohe Gestaltung der Fassade, ansprechenden Klang, bewegte Figuren und fröhliche Arrangements verbreiteten solche Orgeln Stimmung und Lebensfreude und sind damals wie heute ein fester Bestandteil niederländischer Kultur.

Drehorgel aus Berlin
(Bacigalupo)

Die niederländischen Straßenorgeln gehen auf die eindrucksvollen und reich verzierten Jahrmarktorgeln aus der Zeit vor etwa 1930 zurück, wie sie nicht nur in ganz Europa, sondern auch in den USA verbreitet waren. Aufgrund Ihrer Größe wurden sie meist in Schaustellerwagen transportiert und betrieben – oder sie waren in das Karussell integriert. Sie wurden gemeinsam mit dem Karussell von Dampflokomobilen oder Elektromotoren angetrieben.

Die Jahrmarktorgeln wiederum stammen von den deutlich kleineren Drehorgeln ab, wie sie schon im 18. und 19. Jahrhundert vom „Leierkastenmann“ durch die Städte bewegt wurden. Auf den Jahrmärkten ergab sich jedoch schnell der Bedarf nach lauteren Instrumenten mit größerem Tonumfang.

Während die Schausteller auf den Jahrmärkten ab etwa 1930 auf Schallplatten mit elektrischer Verstärkung übergingen (was deutlich billiger war und eine größere Lautstärke sowie die Verwendung von Mikrophonen  zuließ), verschwanden die prunkvollen Jahrmarktorgeln nach und nach von den Jahrmärkten, und weltweit brach deren kunstvolle handwerkliche Fertigung zusammen. Mit ihrem Verschwinden war auch der Zauber der Jahrmärkte – nach Meinung vieler Zeitzeugen – dahin. Viele Instrumente wurden in den 50er und 60er Jahren buchstäblich verheizt. Vereinzelt konnte man sie noch bis in die 70er Jahre antreffen. In Hamburg spielt eine Ruth-Karussellorgel aus dem Jahre 1911 bis heute.

Karussellorgel um 1920

Marenghi Jahrmarktorgel um 1912

Einzig in den Niederlanden hielten sich die Straßenorgeln als fester Bestandteil des öffentlichen Lebens bis in die heutige Zeit. Sie behielten ihre überschaubare Größe und Beweglichkeit, ihre bunten Fassaden und ihr angenehmes Klangbild. Die erste mobile Strassenorgel wurde 1902 von Gasparini aus Paris an Leon Warnies, bis dahin ein Verleiher kleiner Drehorgeln in Amsterdam, nach dessen Entwurf geliefert. Es folgten weitere  von französischen Herstellern wie Gasparini, Gavioli oder Limonaire. Nach deren Niedergang folgten ab etwa 1930 belgische (z.B. Bursens, DeCap, Verbeeck) und nach 1945 niederländische Orgelbauer (zunächst v.a. Perlee). Sowohl Verleihagenturen wie Warnies und Holvoet als auch Schaustellerfirmen wie Hommerson haben viel zur Verbreitung der Straßenorgel in den Niederlanden beigetragen. Die Niederländer lieben ihre „Draaiorgels“ bis heute, insbesondere in der Region „Holland“ um Amsterdam. Sie spielen auf Märkten und Veranstaltungen jeder Art und werden mit viel Improvisationstalent, Fachkenntnis und Liebe instandgehalten, bisweilen auch noch neu gebaut. Jede Orgel ist ein Einzelstück, und jede trägt einen eigenen Namen.

Den eigenen Stil der „Draaiorgels“ hat der aus Waldkirch (Hochburg des deutschen Jahrmarktorgelbaus im Schwarzwald) stammende Orgelbauer Carl Frei über viele Jahrzehnte mitgestaltet. Carl Frei sen. siedelte schon früh nach Belgien und später nach Breda nahe Amsterdam über. Er prägte durch eine neue Registrierung mit weicher, lieblicher Klangfarbe und durch besonders anspruchsvolle Kompositionen und Arrangements den niederländischen Straßenorgelbau wesentlich – ganz anders als die von Marschmusik geprägten französischen und deutschen Jahrmarktorgeln z.B. der Firmen Gavioli, Bruder, Ruth oder Wellershaus. Vor allem löste er sich – dem Geist des Expressionismus folgend – von der Orchesternachahmung und schuf ein eigenes typisches Klangbild. Durch Vereinfachung und Überzeichnung  der musikalischen Vorlagen entstanden quasi „musikalische Karrikaturen“, die die Fröhlichkeit der Musík ausmachen. Carl Frei mußte 1945 die Niederlande verlassen und kehrte nach Waldkirch zurück, wo er – und später sein Sohn Carl Frei jun. – die Waldkircher Orgelbautradition fortführte und bis in die 90er Jahre Jahrmarkt- und Straßenorgeln baute, umbaute und restaurierte.

Niederländische Straßenorgel von Carl Frei mit Harmonika

Trotz – oder gerade wegen – ihrer langen Geschichte ist die niederländische Straßenorgel mit der Zeit gegangen und lebendig geblieben, sie hat sich sogar weiter entwickelt. So konnte sie auch spätere Musikstile „einfangen“, die die alten Jahrmarktorgeln nicht mehr erlebten, wie z.B. die Swing- und Tanzmusik der 20er und 30er Jahre oder die Rock’n Roll Ära. Sie fasziniert nach wie vor ein breites Publikum, und nicht zuletzt deswegen, weil noch heute aktuelle Hits für Straßenorgeln arrangiert werden. In den Niederlanden hat man auch kein Problem damit, solche Orgeln auf elektronische Speichersysteme mit elektromagnetischen Steuerungen (midi-System) umzubauen, um so eine deutlich größere Musikauswahl zu erhalten.

Die Straßenorgel Pluk de Dag hat selbst eine lange und bewegte Geschichte. Um 1960 fiel dem holländischen Orgelbauer Rein van den Broek in Oosterhout eine sehr alte, nur noch in Teilen vorhandene Straßenorgel in die Hände, deren genaue Herkunft nicht mehr überliefert ist, und komplettierte sie wieder zu einer funktionsfähigen, allerdings einfachen reinen Violinorgel. In dieser Form spielte sie weitere 30 Jahre, bevor der Rotterdamer Orgelbauer Gerard Roos sie nochmals restaurierte, dabei auf das Carl Frei – Registersystem zurückbaute und dazu weitere Register ergänzte. Das Klangbild hat dadurch sehr gewonnen. In dieser Form präsentiert sie sich bis heute.

Besonderheiten des Instruments sind nicht nur das selbstspielende Akkordeon, das Glockenspiel sowie die vielen Perkussionsinstrumente (große Trommel, Schnarrtrommel, Maracas, Schlagholz, Becken). Das Orgelwerk mit 104 Holzpfeifen besteht neben zwei Labialbassregistern und dem Begleitungs-Doppelregister (Cello/Bourdon) aus je einem Doppelregister Bourdon („Bourdon Celeste“; gedeckte Labialpfeifen) sowie einem Doppelregister Violine („Violin Celeste“, offene Labialpfeifen). Diese Melodie-Doppelregister sind auf Schwebung gestimmt, so daß ein leichtes Vibrato entsteht. Die Musikstücke werden durch die Vielzahl an Registerumschaltungen und -kombinationen sehr abwechslungsreich gespielt. Wie vor 100 Jahren spielt diese Orgel mit dem Faltkarton-Notenbuchsystem als Toninformationsträger. Das Repertoire umfaßt derzeit rund 125 Notenbücher, die neben klassischen und modernen, langsamen und swingenden Stücken auch Arrangements für besondere Anlässe (Weihnachten, Geburtstage, Hochzeit) enthalten.